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Zu Fuß in Richtung Westen

Gerd Ehlert erinnert sich noch genau an die Flucht aus Ostpreußen

RINKERODE   „Wenn ich die Flüchtlingsmassen der vergangenen Wochen mit Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern sehe, erinnert mich das sehr stark an unsere Flucht im Jahr 1943", berichtet der heute 78-jährige Gerd Ehlert aus Rinkerode.

Die Aufnahme zeigt ein aktuelles Bild von Gerd Ehlert.
        Heute ist Gerd Ehlert  78 Jahre alt. An die Zeit
        des Kriegsendes und die Flucht erinnert er sich
        noch genau.

Die Familie Ehlert lebte in Braunsberg in Ostpreußen. „Ende 1943 wurden wir von der Deutschen Wehrmacht aufgefordert, umgehend unsere Heimat zu verlassen", ist der damals sechsjährige Gerd auch heute, mehr als 70 Jahre später, immer noch erschüttert. Da der Vater sich an der Front im Krieg befand, machte sich der Rest der Familie, also Mutter Ehlert mit ihren vier Kindern im Alter von drei bis sieben Jahren, zu Fuß auf den Weg in Richtung Westen. Mitnehmen konnte man nur das, was man am Körper trug - und dazu jeder einen Rucksack mit dem Nötigsten.

Aber welchen Weg sollte man einschlagen? Da der Landweg von der russischen Armee versperrt war, gab es nur eine Möglichkeit: Der Weg übers Haff und dann über die zugefrorene Ostsee. "Viele andere Familien besaßen ein Pferd mit Wagen. Wir nicht. Wir mussten uns auf unsere Füße verlassen. Zudem haben wir unseren jüngsten Bruder, der gerade mal drei Jahre alt war, oft tragen müssen. Der konnte einfach eine so weite Strecke nicht laufen", erinnert sich Gerd Ehlert.

Auf der Ostsee bildete sich eine riesige Schlange an Flüchtlingen, teilweise zu Fuß, teilweise mit Pferd und Wagen. Auf dem Eis hatten Deutsche Soldaten und Pioniere eine Fahrrinne für Fußgänger und eine für Pferdegespanne abgesteckt. Hier schlängelte sich eine riesige Karawane in Richtung Westen.

Neben der eisigen Kälte und dem Hunger gab es noch eine weitaus größere Gefahr - und die kam aus der Luft: russische Flugzeuge, die "Raddas". Diese beschossen den Flüchtlingstreck im Tiefflug und warfen auch noch Bomben auf die wehrlosen Menschen. Die durch die Bomben entstandenen Löcher im Eis wurden von den deutschen Pionieren mit ganzen Baumstämmen geschlossen. Man errichtete so "Knüppeldämme", über die die Flüchtlinge ihren Weg fortsetzten.

Die Aufnahme zeigt die Familie Ehlert um 1943
Die Familie von Gerd Ehlert  wurde Ende 1943 auseinander-
gerissen. Während der Vater an der Front kämpfte, flüchtete
die Mutter mit ihren vier Kindern zu Fuß in Richtung Westen.
Foto: Ehlert

„Entlang des Weges lagen Hunderte erschossene, erfrorene oder auch schwer verwundete Menschen. Zudem befanden sich viele verendete oder verletzte Tiere auf dem Eis. Man hörte von allen Seiten das Schreien der verwundeten Menschen und Tiere. Es war einfach grausam. Und das Schlimmste war: Keiner konnte helfen", ist Gerd Ehlert auch heute noch zu tiefst betroffen.

Nach einer knappen Woche erreichten die Flüchtlinge die Hafenstadt Pillau. Von dort aus sollte es mit dem Schiff nach Dänemark weitergehen. „Es war zunächst vorgesehen, dass wir mit der Wilhelm Gustloff weiterfahren sollten. Aber die war schon voll. Nach dem Krieg erfuhren wir dann, dass die Gustloff von feindlichen Bomben versenkt worden war", so Ehlert.


Gerd Ehlert: "Ende 1943 wurden wir von der deutschen Wehrmacht aufgefordert, umgehend unsere Heimat zu verlassen."


„Da wir nicht sofort ein Schiff bekamen, mussten wir einige Tage in einem Bunker warten, bis wir auf einem total überfüllten Frachtschiff, das in Richtung Dänemark fuhr, einen Platz erhielten", sagt Gerd Ehlert. Auf dem Schiff gab es nichts zu essen. „Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir von einer Frau eine Schnitte trockenes Brot bekamen. Die haben wir vier uns dann geteilt", so der 78-Jährige.

Nach einer Woche erreichte man dann Jütland in Dänemark. Dort war für die deutschen Flüchtlinge ein Lager mit einem vier Meter hohen Zaun samt Stacheldraht errichtet worden. Die ankommenden Flüchtlinge wurde in Baracken untergebracht. „Immer 100 Personen in einer Baracke, 50 rechts und 50 links", sagt Gerd Ehlert. Mitten in der Baracke stand ein Ofen, der mit Torf beheizt wurde und für die ganze Behausung reichen musste.

Gerd Ehlert: "Viele andere Familien besaßen ein Pferd mit Wagen. Wir mussten uns auf unsere Füße verlassen."


„Ein für uns ganz schrecklicher Schicksalsschlag war der Tod meines Bruders Klaus, der - obwohl er noch in ein dänisches Krankenhaus gebracht wurde - an Masern gestorben ist", ist Ehlert heute noch erschüttert.

Die Aufnahme zeigt ein Bild von Gerd und Karl-Heinz Ehlert um 1943
        Ein Bild   aus glücklicheren Kindheitstagen: Gerd Ehlert (li.)
        mit seinem Bruder Karl-Heinz         Foto: Ehlert

Es gab aber auch eine erfreuliche Nachricht für die Familie. Vom Deutschen Roten Kreuz erfuhr sie, dass sich ihr Vater in englischer Gefangenschaft im westfälischen Münster befand und wohlauf war. Daher war es für die Familie Ehlert auch klar, wohin sie nach der Auflösung des Lagers in Dänemark wollte: Nach Münster.

Mitte 1947 war es dann soweit: Nach drei Jahren im Lager ging es mit dem Zug über Osnabrück nach Hiltrup. „In der jetzigen Gaststätte Bröker war eine Verteilerstation von Flüchtlingen. Uns hat man nach Rinkerode geschickt, ohne uns gefragt zu haben. Aber wie wir später gemerkt haben, war das sehr, sehr gut für uns", schmunzelt Gerd Ehlert.

Die nächste Verteilerstelle der Flüchtlinge war der Schulplatz in Rinkerode. „Auf dem Schulplatz hatten sich zahlreiche Bauern versammelt, die Arbeitskräfte für ihre Höfe suchten. Dort haben wir erstmalig den Bauern Bernhard Milte -heute Hof Allendorf - getroffen, der sofort auf uns zukam und meiner Mutter erklärte, dass er sie und die drei Jungs gerne bei sich auf dem Hof aufnehmen wollte", kann sich Gerd Ehlert noch gut erinnern. Den Grund haben die Ehlerts dann auch schnell erfahren: Zwei Brüder des Bauern Milte waren im Krieg gefallen, er benötigte daher dringend Arbeitskräfte. „Und wir sind alle super auf dem Hof aufgenommen worden. Wir gehörten bald zur Familie", schildert Gerd Ehlert. Natürlich musste man auf dem Hof richtig mit anpacken, aber das "haben wir wirklich gerne gemacht".

1947 kehrte auch der Vater wieder aus der Gefangenschaft zurück. „Mein Vater hat aber bei den Engländern in Münster noch weiter als Autoschlosser gearbeitet. Ihm hat es dort richtig gut gefallen", so Ehlert, der selbst von 1953 bis 1956 in der Rinkeroder Firma Vieth zum Schlosser ausgebildet wurde.

Gerd Ehlert: "Ein für uns ganz schrecklicher Schicksalsschlag war der Tod meines Bruders Klaus."


Im Jahr 1959, also nach zwölf Jahren bei der Familie Milte, zog es die Familie dann nach Gremmendorf.

Aber schon 1964 kehrte Gerd der Liebe wegen nach Rinkerode zurück. „Wir sind zwar alle gebürtig aus Ostpreußen. Aber Rinkerode wurde unsere neue Heimat", ist Gerd Ehlert überzeugt. „Ich wünsche allen Flüchtlingen, die in diesen Wochen und Monaten den Weg zu uns nach Deutschland oder in andere europäische Länder gefunden haben oder noch auf dem Weg dorthin sind, eine ebenso glückliche Zeit, wie wir sie nach der Flucht aus Ostpreußen vor über 70 Jahren in Rinkerode erleben durften".










Quelle: Westfälische Nachrichten vom 30.12.2015, Autor: Karlheinz Mangels

Gerd Ehlert berichtet aus seinen Jugendjahren zum Kriegsende 1945